Beiträge von chrbaars

    Liebe Forums-Mitglieder,




    da hier eine Diskussion über unseren Beitrag zu den Insulinpumpen (http://www.tagesschau.de/inlan…implantfiles-113.html</a>) entbrannt ist, möchte ich gern noch einige Aspekte zusätzlich erörtern. Natürlich sind wir nicht frei von Fehlern und sind immer dankbar, wenn wir Hinweise darauf bekommen. Das prüfen wir dann natürlich sofort nach. Und grundsätzlich verstehe ich alle Sorgen und Ängste und will deshalb kurz darlegen, warum und wie wir dieses Thema aufgegriffen haben.


    Wir haben zu den Insulinpumpen im Rahmen des ICIJ-Projekts „The Implant Files“ mit einigen Kolleginnen und Kollegen – etwa aus den USA, Kanada und Finnland – lange und intensiv recherchiert. Anlass und Auslöser der Recherche war eine Auswertung der Daten der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA zu unerwünschten Wirkungen von Medizinprodukten. Vorgenommen hat sie das Internationale Konsortium Investigativer Journalisten (ICIJ). Dabei wurde ersichtlich, dass es bei keinem anderen Medizinprodukt so viele gemeldete Probleme gibt wie bei Insulinpumpen. 2017 waren es mehr als 150.000. In Deutschland / Europa gibt es leider keine solche transparente Erfassung der Vorkommnisse. Da aber in den USA zu einem großen Teil dieselben / vergleichbare Produkte genutzt werden, sind aus unserer Sicht die Daten von dort auch für Patienten hier relevant. Noch kurz zur Einordnung: In den USA nutzen etwa fünfmal so viele Menschen eine Pumpe wie in Deutschland.



    In Europa gibt es leider auch keine Möglichkeit, irgendwo nachzuschauen oder zu erfragen, welche Tests und Studien für die Zertifizierung eines Medizinprodukts vorgelegt worden sind, da die Prüfinstitute privatwirtschaftlich organisiert sind und sich bei Fragen dazu auf Geschäftsgeheimnisse berufen.In den USA sind zumindest einige Daten einsehbar. Daraus ist ersichtlich, dass Insulinpumpen offenbar vor der Vermarktung kaum in klinischen Studien getestet werden. Möglich ist dies dank des sogenannten Äquivalenzprinzips. Die Hersteller verweisen bei der Zulassung immer auf bereits bestehende Vorgängermodelle und legen dar, dass das jeweils neue Modell „gleichwertig“ (äquivalent) sei. Sie müssen dann keine klinischen Studie durchgeführt haben. So kommt es, dass auch aktuelle Modelle quasi „gleichwertig“ sind mit den allerersten Insulinpumpen aus den 1970/80er Jahren.


    Für die neuesten Modelle, die eine kontinuierliche Blutzuckermessung (CGM) mit der Pumpe kombinieren, wurden für die US-Zulassung teils einige kleinere klinische Studien durchgeführt. Dabei ging es aber immer um die Frage, wie gut die Messung funktioniert, nicht darum, ob die Therapie mit der Pumpe sicher ist oder einen medizinischen Zusatznutzen hat. Zumindest konnten wir keine andere Studie finden. Wir haben auch alle Hersteller dazu gefragt, aber sie haben uns keine entsprechendeStudie genannt, die sie vor der Zulassung durchgeführt hätten.


    In den US-Daten kann man z.B. auch sehen, dass die beiden aktuellen Pumpenmodelle von Medtronic, sowohl die 670G als auch die 630G (die baugleich ist mit der 640G in Europa) in den USA nicht für Kleinkinder zugelassen sind. Die 630G war zunächst erst ab 16 Jahren zugelassen, später (im Dez. 2016) wurde das Mindestalter auf 14 reduziert, die 670G ist für Kinder ab 7 Jahren zugelassen. In der Zusammenfassung zur Zulassung der 670G steht u.a. explizit: „Medtronic hat eine Bewertung des „closed-loop system“ 670G durchgeführt und festgestellt, dass es aufgrund der Art und Weise, wie das System konzipiert ist, und des täglichen Insulinbedarfs für Kinder unter 7 Jahren möglicherweise nicht sicher ist. Daher sollte dieses Gerät nicht für Personen unter 7 Jahren verwendet werden." Und weiter: „Der Einsatz von Insulinpumpen trägt bekanntlich ein erhöhtes Risiko für DKA (Diabetische Ketoazidose). Die FDA hat jedoch Informationen erhalten, die darauf hindeuten, dass einige Patienten bereit sind, ein erhöhtes Risiko für DKA oder Ketose und Hyperglykämie (schwere Hyperglykämie) aufgrund der Vorteile der Verwendung von Pumpen zu akzeptieren." Die 670G ist im Übrigen mittlerweile in Europa zugelassen, ein Mindestalter gibt es hier nicht.


    Wir haben auch die Vorfälle analysiert, die in den USA in der sogenannten MAUDE-Datenbank veröffentlicht werden. Darin finden sich in den letzten Jahren mehrere Tausend Ketoazidosen (durch „Überzuckerung“) bei Pumpennutzern, allerdings auch sehr viele Hypoglykämien, also „Unterzuckerungen“. Allein dieses Jahr (2018) findet man mehr als 7.000 Fälle von Hypoglykämien in Zusammenhang mit Insulinpumpen, auch etwa 30 Todesfälle. Inwiefern jeweils das Gerät dafür ursächlich war, ist jedoch nicht klar ersichtlich. Und natürlich ist uns auch bewusst, dass es auch bei der Therapie mit Spritzen zu unerwünschten Vorfällen kommt. Leider gibt es nur sehr wenige hochwertige Studien, die beide Therapieformen bei Kindern miteinander vergleichen. Mehr dazu weiter unten...



    Insgesamt haben wir Dutzende wissenschaftliche Studien zu Insulinpumpen und möglichen Problemen gelesen, haben international mit verschiedenen führenden Experten in diesem Bereich sowie natürlich auch mit Patienten gesprochen und uns die Vor- und Nachteile ausgiebig erörtern lassen. Dabei wurde deutlich, dass es häufig zu technischen Problemen kommt. Die meisten davon gehen glücklicherweise glimpflich aus, hin- und wieder kommt es jedoch leider zu schwerwiegenden Gesundheitsschäden, teils sogar zu Todesfällen. In den USA wurden deshalb auch Dutzende Klagen in den vergangenen Jahren gegen Pumpenhersteller eingereicht.


    Im Jahr 2015 haben wegen der Vielzahl an technischen Problemen sogar zwei Diabetes-Gesellschaften – aus den USA und Europa – ein gemeinsames Papier veröffentlicht. Darin heißt es: „Selbst bei modernen Insulinpumpen können Fehler der Insulininfusion durch Pumpenversagen, Blockade des Insulininfusionssets, Probleme an der Infusionsstelle, Probleme mit der Insulinstabilität, Benutzerfehler oder eine Kombination davon auftreten. Die Anwender sind daher erheblichen und potenziell tödlichen Gefahren ausgesetzt: Eine Unterbrechung der Insulininfusion kann zu Hyperglykämie und Ketoazidose führen; umgekehrt kann die Abgabe von übermäßigem Insulin zu einer schweren Hypoglykämie führen.“ Dennoch seien die Erkenntnisse zur Sicherheit und Wirksamkeit Insulinpumpen begrenzt.


    Im selben Jahr erschien eine sogenannte Metastudie, eine Übersicht verschiedener Studien, zu "Insulinpumpen-assoziierte Nebenwirkungen bei Erwachsenen und Kindern". Darin heißt es, dass bei mehr als 40% der Insulinpumpennutzer pro Jahr unerwünschte Ereignisse auftreten. "Die verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass unerwünschte Ereignisse überraschend häufig sind, selbst bei Pumpen der modernen Generation."
    Und weiter: "Eine Studie an Erwachsenen ergab 2009, dass 44 % der Pumpen irgendwann einen Totalausfall erlitten, mit einer Ausfallrate von 25 pro 100 Pumpenjahre. In jüngster Zeit wurden noch höhere Raten gemeldet. Pickup et al. im Jahr 2014 fanden heraus, dass 48 % der erwachsenen Teilnehmer irgendwann eine Fehlfunktion der Pumpe hatten; wobei der Stillstand der Pumpe oder keine Insulinzufuhr das häufigste aufgezeichnete Ereignis war (bei 28 % der Fehlfunktionsereignisse), während Wheeler et al. feststellten, dass 56 % der unerwünschten Ereignisse bei Kindern über einen Zeitraum von 12 Monaten (oder 58 von insgesamt 104 Ereignissen) auf eine Fehlfunktion der Pumpe zurückzuführen waren, entweder vorübergehend oder dauerhaft. Es ist bemerkenswert, dass sich die Ausfallraten der Pumpen mit dem technologischen Fortschritt insgesamt nicht zu verbessern scheinen."


    Auch aus anderen Studien wird ersichtlich, dass wohl mindestens 15-20 Prozent aller Insulinpumpen pro Jahr komplett ausfallen. Auf Anfrage von uns zu dieser Zahl hat Medtronic nicht geantwortet, andere Hersteller haben geschrieben, diese Zahl sei zu hoch, aber haben keine eigenen Angaben gemacht.


    Zum medizinischen Nutzen der Insulinpumpen im Vergleich zur Therapie mit Spritzen bei Kindern gibt es leider nur sehr wenige aussagekräftige klinische Studien. Der „Gold-Standard“ für solche Studien sind solche, bei denen Patienten zufällig in zwei Gruppen aufgeteilt und miteinander verglichen werden. So kann man weitgehend ausschließen, dass beispielsweise soziale Faktoren, die Intensität der Schulung oder die Häufigkeit der Blutzuckerkontrolle das Ergebnis beeinflussen. Die größte derartige Studie mit Kindern wurde vor wenigen Monaten, im August 2018, veröffentlicht. Durchgeführt wurde sie vom National Health Service in Großbritannien über einen Zeitraum von 12 Monaten. Insgesamt nahmen 293 Kindern im Alter zwischen 7 Monaten und 15 Jahren teil (144 mit einer Pumpe, 149 mit Spritze).



    In dieser Studie heißt es u.a.: Im Durchschnitt hätten Kinder, die mit der Pumpe behandelt wurden, eine schlechtere Blutzuckereinstellung,benutzten mehr Insulin und hatten mehr Nebenwirkungen als Kinder, die mehrere tägliche Injektionen per Spritze erhielten. Aber diese Ergebnisse waren statistisch nicht signifikant. Allerdings berichteten Eltern von Kindern, die eine Pumpe genutzt haben, über einen kleinen, aber statistisch signifikanten Anstieg der Lebensqualität. In dieser Studie kostete die Pumpenbehandlung etwa 2000 Euro pro Patient und Jahr mehr als mit Spritzen. Natürlich kann diese Studie keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Es ist auch nicht klar, ob sich auf längere Sicht – nach zwölf Monaten – möglicherweise der Trend umkehrt.


    Zu den in der Studie aufgetretenen Nebenwirkungen schreiben die Autoren: Insgesamt habe es acht Vorfälle mit einer schweren Hypoglykämie, also einem extrem niedrigen Blutzuckerspiegel, gegeben, sechs davon bei Kindern, die mit einer Pumpe behandelt wurden, zwei bei Kindern, die eine Spritze nutzten. Außerdem habe es zwei Fälle von einer Ketoazidose gegeben, beide bei Pumpennutzern. Insgesamt habe es bei den Pumpennutzern 54 unerwünschte Wirkungen gegeben, 29 davon waren mit der Insulinpumpe verbunden. Hier ist die Studie zu finden:http://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK519273/</a>


    Bezüglich unseres Beitrags möchte ich gern noch anführen, dass wir durch unsere Recherche auf den darin geschilderten Fall aufmerksam geworden sind und die Familie um ein Interview angefragt haben, dem sie dann zugestimmt haben. Wir haben größte Mühe darauf verwandt, alles so gut wie möglich zu überprüfen. Unter anderem haben wir einen gerichtlich anerkannten Sachverständigen für Medizinprodukte gebeten, sich die Pumpe anzusehen. Er sagte, es deute einiges auf einen technischen Fehler hin, man könne einen solchen zumindest nicht ausschließen. Um dies zu klären, sei man jedoch auf die Unterstützung des Herstellers angewiesen. Die Firma lehnt es jedoch ab, einen externen Sachverständigen hinzuzuziehen. Auch hat sie in diesem Fall das Gerät selbst niemals analysiert. Die Hotline hat sich lediglich einen Auszug des Pumpen-Protokolls schicken lassen und dann sofort einen technischen Fehler ausgeschlossen, obwohl nach dem Wiedereinschalten verschiedene Fehler-Codes angezeigt wurden. Die Familie hatte beim Hersteller nach der Bedeutung der Codes gefragt, aber keine Auskunft erhalten. Uns, dem NDR, wurde zumindest mitgeteilt, dass einer der Codes für einen „Hardwarefehler der niedrigsten Stufe“ stehe, aber eine Gefährdung des Patienten nicht bestehe. Wie geschildert hat die Firma aber die Hardware, also das Gerät, nicht untersucht.


    Letztlich war uns aber klar: Wir können es nicht endgültig klären, ob ein Pumpenfehler zu der Bolusabgabe geführt hat oder nicht. Ganz unabhängig von dieser Frage hätte aus Sicht des Sachverständigen die Pumpe eine solche Insulinmenge nicht freigeben dürfen. Denn für alle Medizinprodukte müsse der Grundsatz der integrierten Sicherheit oberste Priorität haben. Das bedeutet, dass Insulinpumpen so beschaffen sein müssen, dass alle Risiken minimiert werden, auch die von Bedienungsfehlern. Aus Sicht des Sachverständigen gibt es keinen vernünftigen Grund dafür, dass die Medtronic-Pumpen mit einer Standardeinstellung für den Maximalbolus von 10 Einheiten ausgeliefert werden. Andere Hersteller liefern ihre Pumpen mit der Grundeinstellung 0 aus, sodass die Anwender aktiv den Grenzwert individuell einstellen müssen. So wird verhindert, dass möglicherweise bei der Inbetriebnahme übersehen wird, den Wert nach unten zu regulieren. Auch andere
    Sachverständige haben uns das bestätigt. Medtronic selbst hat auf Anfrage dazu nicht geantwortet.


    Viele Grüße,
    Christian Baars (NDR)