Gesundheitspolitik
Arme Ärzte, arme Patienten
Von Roswin Finkenzeller, München
[Blockierte Grafik: http://www.faz.net/m/%7B8B535453-5D2C-411D-AC01-D2CED0C57F54%7DFile1_4.jpg]
06. März 2009 Winterlich kalt war es in der Oberpfalz und spiegelglatt der Weg, auf dem die 52 Jahre alte Frau ausrutschte. Als nach einigen Tagen das Knie immer noch schmerzte, ließ sie sich zu Dr. Kian bringen, ihrem Orthopäden in Eschenbach, dessen Patientin sie ohnehin war. Die laienhaftesten Gedanken huschten ihr durch den Kopf, etwa der, dass nunmehr der Facharzt nicht nur an ihrer rechten Schulter verdiene, sondern auch noch an einem Gelenk weiter unten.
Bass erstaunt gewesen wäre sie, wenn ihr in der Praxis jemand die gesundheitspolitische Wahrheit aufgetischt hätte, dass ihr verletztes Knie kostenlos behandelt werden müsse. Denn seit 1. Januar zahlen die gesetzlichen Kassen pro Patient und Quartal einen bestimmten Betrag und damit basta. In der Orthopädie sind das 29 Euro und 28 Cent. Mit diesem Sümmchen waren bereits die Bemühungen um die Schulter, genauer um die abgenutzte Rotatorenmanschette, auf betriebswirtschaftlich verheerende Weise abgegolten.
Verwirrende Details
[Blockierte Grafik: http://www.faz.net/m/%7B88530B54-4709-44E8-8CBB-17A43AC3B158%7DFile1_4.jpg]Streikende Fachärzte Mitte Februar in München: Nicht nur von Luft und Liebe leben
Alle Leistungen sind inbegriffen, vom Tastbefund über den Ultraschall bis zu den guten Ratschlägen. Röntgen allerdings ist eine Sonderleistung, zu vergüten mit fünf Euro. Oder, sofern es der Therapeut pfiffig anstellt, mit zwölf Euro. Die neuen Tarife gestatten ein paar Schlaumeiereien und damit wiederum staatliche Ausreden wie die, Beschwerdeführer könnten nicht rechnen. Das ändert aber nichts an der Einführung der „Regelleistungsvolumina“, der nach medizinischen Fachgebieten und Bundesländern fein gegliederten Kopfpauschalen für drei Monate.
Das bisherige Punktesystem war für niedergelassene Fachärzte der Regen, aus dem sie in die Traufe kamen. Zu ihrer Kenntnis gelangten die unzähligen, von Neujahr an geltenden Details nicht etwa im vergangenen Herbst, sondern kurz vor Weihnachten, einem für das Studium fachspezifischer Einkommensverhältnisse etwas ungeeigneten Zeitabschnitt.
Blättern
Einkommen, Honorare, Vergütungen - der Vorsitzende des bayerischen Kardiologenverbandes beschwört die Deutschen, solche irreführenden Vokabeln zu vermeiden. Welchen Plural hält Professor Silber für angebracht? „Umsätze.“ Stimmt insofern, als die Beträge nicht in die Taschen des Arztes fließen, ja nicht einmal die Betriebskosten decken, am wenigsten die einer kardiologischen, mit modernsten Geräten ausgestatteten Praxis.
All-Inclusive Behandlung für 72 Euro
So ergeht es auch dem Münchner Professor Schön, der wie fast alle Kollegen dem jeweiligen Patienten nicht gleich auf die Nase bindet, was der gesetzlichen Krankenversicherung ein bayerisches Herz vierteljährlich wert ist. Ein 35 Jahre alter Patient, der sich kürzlich nach zweitägiger Behandlung nach den Kosten erkundigte, konnte es kaum glauben: Am Donnerstag hatte er auf dem Bildschirm ein Stück seines Innenlebens gesehen, aber nur in Form von Tabellen und Grafiken - das Ergebnis der Sonographie. Am Freitag lag er zweimal, jeweils 17 Minuten lang, unter einer sich nähernden, sich entfernenden, von links nach rechts pendelnden und wieder zurückschwenkenden Kamera. Szintigraphie.
Dazwischen trug er die für ein Langzeit-EKG nötigen Schnüre mit sich herum, die längst nicht mehr so zahlreich und unbequem sind wie früher. Persönlich lernte er Professor Schön kennen, der sich ihm ebenfalls zweimal widmete, wahrscheinlich auch jeweils 17 Minuten lang. Es war da noch ein zweiter Arzt, der die Sonographie besorgte und dabei behauptete, die besondere Art von Ultraschall ersetze einen Teil der ebenso klassischen wie schmerzhaften Katheteruntersuchung erst seit ein paar Jahren.
[Blockierte Grafik: http://www.faz.net/m/%7B2DCFDFCD-EB49-4E12-8EC4-C85B1B405610%7DFile1_4.jpg]Gesundheitsministerin Ulla Schmidt: Die Rechnung geht nicht auf
Personalintensiv war die Behandlung auch deshalb, weil Fachpersonal dem Patienten das EKG anlegte und abnahm, weil der Patient für das erste, das Belastungsszintigramm, unter fachfraulicher Aufsicht treten und strampeln musste und weil ihm als Kontrastmittel ein Nuklid intravenös verabreicht wurde. Was nun kostete der ganze Spaß? 72 Euro. So viel zahlt die Kasse und zahlt auch dann keinen Cent mehr, wenn der Patient im laufenden Quartal nicht nur die diagnostizierte Verengung der Aortenklappe aufzuweisen hätte, sondern urplötzlich auch ein, sagen wir, Vorhofflimmern. Benötigte sein Herz ein paar Stromstöße, müsste der Defibrillator dann gratis seinen Dienst tun.
Die rettende Idee, die sich unter sämtlichen Fachärzten schon Anfang Januar herumgesprochen hat, wäre die Überweisung ins Krankenhaus. Dort wird nach einem anderen System gerechnet, allerdings nach einem für den Steuerzahler teureren.
„Leistungen den Honoraren anpassen“?
Die für Patienten schlimmstmögliche Perspektive hat der Bundesverband niedergelassener Kardiologen in Worte gefasst. „Wird die Vergütung nicht unverzüglich aufgestockt, werden die Kardiologen zunehmend dazu übergehen müssen, ihre Leistungen den Honoraren anzupassen.“ Der arme Patient legt natürlich Wert darauf, dass die ärztlichen Leistungen seinem Gesundheitszustand angepasst werden und nicht den Honoraren oder, wie Professor Silber zu sagen empfiehlt, den Umsätzen.
Sein Kollege Schön liebt den Ausdruck „lege artis“, nach den Gesetzen der ärztlichen Kunst. Wird jedoch der Mann mit der verengten Aortenklappe lege artis behandelt, dann kostet den Therapeuten allein schon das in die Vene zu spritzende Thallium mehr als de Hälfte jener 72 Euro, die von den gesetzlichen Kassen erstattet werden. Schön arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis, deren Kosten sich im Monat auf 100.000 Euro belaufen. Davon werden die Kassen allenfalls 80.000 Euro übernehmen.
Den Rest zahlen, wenn auch indirekt, die glücklicherweise vorhandenen Privatpatienten, die tun müssen, was die gesetzlichen Krankenkassen nicht tun wollen: bezahlen, was es kostet.
Da aber Ärzte auf Dauer vom Ethos ebenso wenig leben können wie von der Luft und der Liebe und die unterschwelligen Zuwendungen der Privatpatienten kein Dauerzustand sein sollten, richten sich die Hoffnungen auf eine Anhebung der Regelleistungsvolumina. „Wenn“, prophezeit Schön, „die RVL durchgehen, dann würde das für die versicherten Patienten einen Anstieg der Morbidität und Mortalität bedeuten.“ Auf Deutsch: Die Leute sterben eher.
Während in Bayern die Gastroenterologen beneidet werden, weil sie für eine Darmspiegelung jenseits aller Pauschalen 180 Euro berechnen dürfen, sind die Gynäkologen Gegenstand fächerübergreifenden Mitleids geworden. Pro Patientin und Quartal bekommen sie 16 Euro. Das ist ungefähr die Summe, mit der nach Krankenkassenbegriffen der Tastbefund und der Vorsorgeabstrich ausreichend vergütet sind. Schon die Tumornachsorge, auf die aus Sparsamkeitsgründen zu verzichten kein sehr weiser Rat wäre, und alles Übrige auch wird von der Pauschale nicht mehr gedeckt.
Die Vokabel „Praxisgebühr“ als perfekte Irreführung
Wohl aus Angst, die vom Risikostrukturausgleich der Länder besonders benachteiligten bayerischen Doctores könnten unter die Patientensammler gehen, wurde die Zahl der einzureichenden gynäkologischen Scheine auf tausend begrenzt. Selbst wer sich schwertut mit dem großen Einmaleins, wird mühelos errechnen, was dabei herauskommt: 16 000 Euro im Quartal, das heißt etwas mehr als 5000 Euro im Monat. Davon zu bezahlen wären der Arzt, zwei Sprechstundenhilfen mit Gehalt und Lohnnebenkosten und nicht zuletzt die hoffentlich moderne und pieksaubere Praxis. Dass die Rechnung nicht aufgeht, weiß jeder, weiß sogar Ulla Schmidt, die es sich trotzdem angelegen sein lässt, die Kassenpatientinnen gegen die Privatpatientinnen mit Bemerkungen wie der aufzuhetzen, bloß weil Letztere plötzlich auftauchten, sollten Erstere nicht länger im Wartezimmer sitzen müssen.
Der Vergleich mit Automechanikern ist unter Operateuren mittlerweile gang und gäbe. In der Regel unterbliebe die Reparatur eines jeden Wagens, wenn mit ihr nicht weitaus mehr Geld zu verdienen wäre als mit entsprechenden Eingriffen beim Kassenpatienten. Stellen Sie sich doch, ermuntern einige Ärzte ihre Patienten, einen Klempner vor. Sollte an diesen das Ansinnen gestellt werden, für eine pauschalierte zweistellige Summe sämtliche einschlägigen Schäden zu beheben, die im Laufe eines Vierteljahres in einem Haus anfallen könnten, dann würde einem solchen Kunden der Handwerker aller Wahrscheinlichkeit nach den Vogel zeigen.
Das breite Publikum kann es kaum fassen, schon gar nicht verstehen. Dazu dient auch die abstoßende Wortschöpfung „Regelleistungsvolumen“. Schon die Vokabel „Praxisgebühr“ war eine perfekte Irreführung - die Praxis darf die zehn Euro gar nicht behalten. „Regelleistungsvolumen“ ist noch verwirrender - viele Leute glauben immer noch, die Fachärzte verdienten sich damit eine goldene Nase. Die Quersubventionierung durch die Privatpatienten, wenn sie denn überhaupt wahrgenommen wird, regt die wenigsten Kassenpatienten sonderlich auf. Erst die Bezifferung der Honorare, die im Osten der Republik höher sind als im Westen, führt zu der entscheidenden Frage, wie denn so ein Arzt über die Runden kommen wolle, der für eine Punktion 11,56 Euro oder für den Einsatz von Ultraschall 1,20 Euro verdiene - für etliche Bemühungen aber überhaupt nichts.
„Es wird systematisch kaputtgespart“
ie Lagebeurteilung fällt bei den Betroffenen ziemlich einhellig aus. Erster Kernsatz: Die niedergelassenen Fachärzte werden verschwinden. Zweiter Kernsatz: Genau das ist politisch gewollt. „Man möchte die Fachärzte austrocknen“, formuliert es beispielsweise Dr. Kian. Bedenkenlos spricht er vom „MVZ“, als sei diese Abkürzung bereits sprachliches Allgemeingut, als habe sich längst herumgesprochen, dass dem „Medizinischen Versorgungszentrum“ die Zukunft gehören soll, einer Mammutpoliklinik unter staatlicher oder halbstaatlicher Verwaltung, mit etlichen Assistenzärzten, deren Einsatz dem Prinzip der freien Arztwahl hohnspricht.
Hat ein Oberpfälzer Akademiker noch im Ohr, wie die Politiker, zumal die sozialdemokratischen, im bayerischen Flächenstaat die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen sowohl vermissten als auch herbeisehnten, dann kann er über die Vorliebe für zentrale, den Großstädten vorbehaltene Einrichtungen nur staunen. Nürnberg in Mittelfranken als Reiseziel Oberpfälzer Patienten? So ungefähr.
„Geplant ist eine relevante Systemumstellung“, sagt Sigmund Silber und malt sich das Gedränge in den therapeutischen Sammelstellen aus: „Wir kriegen die Wartelistenmedizin.“ Das wären englische Verhältnisse trotz erwiesenen englischen Fehlschlags. „Wir hatten“, bemerkt Hans R. Schön über Deutschland, „in der Welt das beste Gesundheitssystem, das jetzt systematisch kaputtgespart wird.“
Zum Thema
- Kommentar: Ärzte auf den Barrikaden
- Gesundheitspolitik: CSU will Honorarsystem abschaffen
- Gesundheitsreform: Privatpatienten müssen Arztpraxen retten
- Krankenkasse muss nicht zahlen
- FDP für Neuordnung der Krankenversicherung
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: ddp, dpa, F.A.Z.-Greser&Lenz