Wie offensiv mit der Erkrankung umgehen?

  • Hallo allesamt,


    ich bin gerade ganz frisch in den Club aufgenommen worden. Am Dienstag nach Ostern die Diagnose bekommen (quasi als verspätetes Ostergeschenk), am Donnerstag vom Diabethologen mit 2 Spritzen und einem Messgerät ausgestattet worden und darf nun messen und spritzen. In das reine technische Doing bin ich gut eingeführt worden, aber daneben gibt es noch einiges mehr an Fragen, die nicht beantwortet wurden.


    Was ich mich frage ist, wie offensiv soll ich mit der Erkrankung umgehen, also wem erzähle ich davon und wem nicht. Ich meine es ist schon klar, dass ich mich bei niemandem vorstelle: "Hallo ich bin Michael, übrigens ich habe Diabetes", und es ist auch klar, dass ich Partner, Freunde, Familie informiere. Aber was macht man mit der großen Spanne dazwischen? Insbesondere mit Arbeitskollegen. Bisher habe ich die Erkranung für mich behalten, ich merke aber schon nach dieser kurzen Zeit, dass es mich belastet.


    Ich arbeite in einer kleinen Geschäftstelle unserer Firma mit ca. 20 Mitarbeitern. In der Mittagspause gehen wir in unterschiedlichen Konstellationen zum Mittagessen. Jetzt sehe ich meine Optionen darin irgendwie versuchen heimlich zu spritzen (was wohl auf Dauer doch auffällt), mit den Kollegen nicht mehr essen zu gehen, oder halt Bescheid zu sagen. Im Großen und Ganzen ist mir Option 3 die liebste. Aber wie es halt ist, das gesprochene Wort lässt sich nicht mehr zurücknehmen. Und bevor ich jetzt etwas mache, was mir ewig anhängen könnte, wollte ich nach euren Erfahrungen fragen. Wem erzählt ihr davon, dass ihr Diabetes habt und wie gehen die Leute (insbesondere Arbeitskollegen) damit um?


    Gruß,
    Michael

  • Hallo Michael und herzlich willkommen im Insulinclub.
    Ist immer wieder toll, wie schnell die frisch Manifestierten herfinden.


    Tja, wem erzählt man was. Meiner Erfahrung nach sollte jeder auf sein Bauchgefühl hören. Wenn es dir ein Bedürfnis ist andere einzuweihen und die (Arbeits)Beziehung einigermaßen stimmt, tus.
    Je unbefangener man selbst damit umgeht, umso schneller verliert es für alle das Exotische. Du hast den Vorteil, dass dich deine Kollegen ja bereits kennen. Sie werden sich schnell an die neue Situation gewöhnen. Wie offensiv du damit umgehen willst, wirst du bestimmt selbst bald herausfinden. Nur Mut.

    Easy come, easy go.

  • Sers Michael,


    im allgemeinen muss man niemanden einweihen. Mit dem Spritzen im Verborgenen ist es wie mit dem Stillen, Nasebohren oder Zehennägel schneiden. Manche machen es offen als Demonstration, andere denken auch an die Gefühle Ihrer Mitmenschen und ziehen sich soweit möglich zurück.



    Nachdem Du frisch manifestiert bist solltest Du Deine Kollegen unbedingt einweihen. Wenn Dich mal ein Unterzucker belästigt ohne daß Du es selbst merkst, könne Sie Dir diskret ne Cola hinstellen. Oder Ihr macht sonst ein Zeichen aus, Andererseits: Dann brauchst Du auch nicht erklären, wenn Du mal dringend in die Kantine musst oder zum Testen verschwinden willst.


    Alles Gute und Willkommen!

    let the sun shine

  • Hallo Michael,


    herzlich willkommen und viel Erfolg beim Neu-Einstellen. Das ist eine neue Situation, an die du dich erst gewöhnen musst. Aber du wirst sehen, dass man mit Diabetes gut leben kann.


    Auch mir ging es ähnlich wie dir vor dreieinhalb Jahren. Meine engsten Kollegen wurden gleich eingeweiht, aber manchmal gehen wir auch noch mit anderen Menschen essen, mit denen wir gut bekannt sind, die wir aber nur sporadisch sehen. Ich habe für mich persönlich festgestellt, dass es am einfachsten ist, wenn ich meinen Diabetes nicht verstecke und mir beim Essen am Tisch spritzen kann.
    Sitze ich mit anderen Menschen am Tisch und die unterhalten sich untereinander, spritze ich mir unaufällig in den Bauch, vermeide Blickkontakt und gucke auf meine Utensilien, um zu zeigen: Ich bin gerade beschäftigt. Wenn mir aber ein oder zwei Menschen zugucken und die wissen noch nicht Bescheid, "warne" ich vor: "Ich muss mir mal kurz eine Spritze geben." Das ist hilfreich für die, die Angst vor Spritzen haben und sie können dann weggucken. Du könntest auch stattdessen sagen: "Ich muss mir mal kurz meine Medizin spritzen." (Dazu vielleicht noch je nach Situation: "Wenn Sie Angst vor Spritzen haben, gucken Sie weg. Das dauert nur ein paar Sekunden.") Stimmt zwar nicht ganz, klingt aber harmloser.

    "Wenn du mit dem Finger auf andere Menschen zeigst, zeigen drei Finger auf dich selbst."

  • Hallo Michael!


    Natürlich ist es doof zu sagen "Hallo ich bin Michael und habe Diabetes"! Aber wenn ihr mal wieder essen geht, kann man ja in Plauderton erwähnen, dass nun Diabetes diagnostiziert wurde. So nach dem Motto "Ach war das ein Ostern. Wurde Diabetes festgestellt..." Oder so ähnlich. :o


    Warum sollte dir jemand deshalb etwas "anhängen"? Das ist ja nichts ansteckendes woran sich andere stören könnten. Es gehört jetzt nun mal zu dir, dafür muss sich keiner schämen. :)


    Vielleicht braucht es einfach noch ein bisschen Zeit bis du dich selbst besser daran gewöhnt hast.


    Liebe Grüße

    Wer zuviel fragt, bekommt zu viele Antworten.

  • Hallo Michael, willkommen hier. Bin selbst erst seit ca 4 Wochen dabei.
    Ich hab das jetzt für mich so geklärt, dass ich es dem engeren Umkreis meiner Mitstudenten erzähle, und sie auch auf eine eventuelle Unterzuckerung meinerseits vorwarne und erkläre, wie sie mir gegebenenfalls helfen können. Ich finde das schon wichtig.
    Außerdem habe ich dadurch jetzt schon zwei weitere Typ-1-er unter meinen Mitstudenten entdeckt, die mir vorher nie als solche aufgefallen sind, weil sie eine Pumpe tragen. So hatte ich Menschen für den Austausch untereinander gefunden.
    Wenn mich mal jemand beim Spritzen entdeckt, der es vorher nicht wusste und dann nachfragt, bestehe ich selbst darauf, demjenigen das ganz genau zu erklären, um Missverständnisse oder Unwissen aus der Welt zu schaffen.

  • Es erleichtert die Kommunikation natürlich, wenn man notfallmässig ins Spital gehen muss und dann zwölf Tage vom Büro fernbleibt. In der Situation ergibt sichs dann von selbst, dass was nicht stimmt. Und ich hab auch Besuch von Arbeitskollegen bekommen, daher musste ich danach nicht mehr erklären, dass ich Diabetes hab, sondern was es damit auf sich hat.


    In deiner Situation würd ichs ganz unaufgeregt mal in der versammelten Runde (zB. beim Mittagessen) unspektakulär eröffnen. "Leute, seit Ostern hab ich Diabetes. Das heisst, ich muss meinen Blutzucker messen und mir entsprechend dem, was ich esse, Insulin spritzen." Vielleicht noch was zu Hypos erklären ... etwaige Fragen beantworten ... aber sonst nicht zu viele Gedanken. Ich les hier immer wieder, dass viele jemanden mit Diabetes kennen. Meist wohl Typ2-er, viele aber auch 1er. Es muss also nicht sein, dass du auf völlige Ahnungslosigkeit stösst. Und wenn, kannst du ja Auskunft geben.


    Zu Beginn ists vielleicht noch spannend, aber irgendwann geht man als Aussenstehender auch wieder auf den Alltags-Modus und weiss, dass der Typ da halt vor oder nach dem Essen kurz verschwindet oder sich kurz das Shirt etwas anhebt. Mehr aber auch nicht. ;)

  • So habe ich das auch gemacht. Den engeren Kollegen-/Mitstudentenkreis informiert damit diese Bescheid wissen. Der Rest erfährt es sowieso oder auch nicht, ist auch egal. Ich spritze erst beim Essen am Tisch auch in der Mensa oder im Restaurant, wobei ich mich in der Regel nicht so setze, das der Bauch zum offenen Saal gerichtet ist. ;) Ich warne dann auch niemanden vor.
    Da hat es sich für mich so dargestellt, je selbstverständlicher du damit umgehst umso weniger interessiert/verwundert es deine Mitmenschen. Oft reicht auf Nachfrage auch als kurze Antwort: "Ich hab Diabetes"


    Es warnt nach dem Essen auch niemand vor, wenn er sich mit dem Zahnstocher das Fleisch aus den Zähnen prockelt und das finde ich wesentlich eckliger.

  • Zitat von icarus;297682

    Es warnt nach dem Essen auch niemand vor, wenn er sich mit dem Zahnstocher das Fleisch aus den Zähnen prockelt und das finde ich wesentlich eckliger.


    Naja, "vorwarnen" ist nicht der passende Ausdruck, aber je nach Situation kläre ich kurz auf und gut ist. Ich habe es immerhin schon mal erlebt, dass jemand aus dem Raum gestürzt ist, als ich ohne "Vorwarnung" die Spritze rauszog. Und das muss ich nicht haben.

    "Wenn du mit dem Finger auf andere Menschen zeigst, zeigen drei Finger auf dich selbst."

  • Haha, ja das sollte als Beispiel dienen. Ich mache mich auch nicht halb nackig, spritze fröhlich Insulin in die Luft und jage mir stöhnend die Nadel in den Bauch während Nebel aufsteigt. ;)
    Ne, ich benutze den Region unterhalb des Bauchnabels nur für solche öffentlichen Gelegenheiten. Die Postion ist beim spritzen etwas unterhalb der Tischkante, mit geringstem Aufwand zu erreichen und nicht selten dachten schon Personen mir gegenüber ich würde mit dem Handy rumspielen.

  • Also bei meinem letzten Job wußten es ein paar Arbeitskollegen, bei meinem jetzigen Stelle weiß es niemand. Eigentlich habe ich kein Problem damit, anderen zu sagen, dass ich Diabetes habe, aber im Laufe der Jahre haben mir Leute, mit Stolz auf ihr nicht unbedingt hilfreiches Halbwissen, angefangen ein wenig auf den Senkel zu gehen, also solche die sagen:


    - Zimt ist total gut gegen Diabetes, wenn Du mehr Zimt essen würdest, bräuchtest Du kein Insulin zu spritzen.


    Mmmh, wo fange ich da an die Funktion der Bauchspeichedrüse zu erklären und die Unterschiede zwischen den verscheidenen Diabeteserkrankungen?


    - Brombeeren, Du solltest einfach viele Brombeeren essen, total gut gegen Deinen Diabetes, wenn Du mehr Brombeeren ist, brauchst Du bestimmt kaum noch Insulin...


    Mmmh, wie kann ich in so jemanden Informationen über ß-Zellen und den Kohlehydratgehalt von Brombeeren reinprügeln?


    ....


    Naja, Spass bei Seite. In meiner jetzigen Firma überlege ich auch es irgendwann mal public zu machen, aber im Moment noch nicht.
    Generell kann man, wenn man unbedingt will messen und spritzen sehr diskret machen. Bei irgendwelchen Veranstaltungen mit Kunden habe ich oft gemessen, bevor wir zum Essen gegangen sind. Ob man nun direkt beim Essen oder 10 min vorher mißt, macht normalerweise keinen großen Unterschied aus. Spritzen kann man wie schon angedeutet gut unter dem Tisch, ich spritze in solchen Situationen durch die Kleidung unterhalb des Bauchnabels oder sogar in den Oberschenkel. Im Zweifelsfall sollte man eine Nadellänge auswählen, die mit der Jeans klarkommt (also lieber 8mm als 5mm, wenn man das vorhat). Die Nadel wechsel ich nicht bei jeder Injektion (ich weiß, rate ich natürlich niemandem, ich erzähle nur, wie ich das für mich regele...). Eine Einheit abgeben um zu sehen ob der Pen funktioniert ist normalerweise auch kein Probelm.


    Generell finde ich der Pen sieht nicht besonders nach Spritze aus, wenn man sogar noch durch Kleidung injiziert und nicht lange zögert, sieht man eigentlich nicht viel von der Nadel. Da habe ich eigentlich nie vorgewarnt, aber halt auch nicht unbedint Showmäßig das Insulin appliziert ;)


    Wenn Du ein gutes Verhältnis zu Deinen Kollegen hast, warum nicht?
    Wenn Du Dich unsicher fühlst und Du lieber nicht an die Öffentlichkeit treten möchtest, jemand der es nicht weis, wird messen nicht unbedingt wahrnehmen, die Vermutung das jemand mit seinem Handy spielt ist ja nichts ungewöhnliches ;)

  • Hallo allesamt,


    vielen Dank für die vielen und guten Antworten. Ich freue mich, dass hier offenbar noch niemand schlechte Erfahrungen mit Ausgrenzung o.ä. gemacht hat. Hätte ich eigentlich auch nicht erwartet, denn der Ruf von Diabetes ist auch nicht so schlecht. Wenn man die Krankheit dann noch, wie in einem anderen Thread vorgeschlagen, in Clooney-Statham-Syndrom umbenennt, ists vielleicht sogar was zum Angeben ;)


    Gut gemeinte Ratschläge, die kommen könnten, nehme ich als ein noch erträgliches Übel verglichen mit heimlich spritzen.


    Gruß,
    Michael

  • Hi,


    erzählt hab ich es auf Arbeit keinem, ich hab einfach gemacht, wer dann gefragt hat, bekam Antwort. Inzwischen wissen es alle, ist aber selten Thema. Früher als ich noch unter ICT war hab ich mich leicht zur Seite gedreht zum spritzen und fertig. Fiel so gut wie nie auf. Ich finde, dass es so auch weniger Aufsehen erregt als wenn man ständig auf Toilette geht und da misst oder spritzt, finde ich für meinen Teil doch arg unkuhl. Muss sagen, ist bei mir auf Arbeit manchmal schon goldig, einige Kollegen fragen immer wie der Wert ist. Haben ja auch mitbekommen wo ich meine "Ignorier" Phase hatte und da haben sich schon paar Sorgen gemacht. Die passen irgendwie auf. Schon goldig... :D

  • Hi,


    bei mir im Büro wissen es alle. Ist einfach ne normale sache die zum Alltag dazugehört. Bin recht Offensiv damit umgegangen.
    Mehr so richtung friss oder stirb, wenns nicht gefällt schau doch weg. Wie es im gesammten in der Firma aussieht weis ich nicht.
    Halt die die mit mir näher zusammen arbeiten wissen es, denk ich mal. War aber von Anfang an bei mir auf der Arbeit kein Problem.


    Im privaten weis es auch nicht jeder. Eigentlich auch nur deshalb um mir dieses ewige erklären und die teilweise
    Saudummen ratschläge zu ersparen. Typ 2 Tips passen bei nem Typ1er nicht wirklich. Aber den Unterschied zu erklären scheint
    manchmal unmöglich zu sein . . .

    Nach manchem Gespräch mit einem Menschen hat man das Verlangen,
    einen Hund zu streicheln, einem Affen zuzunicken und vor einem Elefanten den Hut zu ziehen.


    (Maxim Gorki)